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12. April 2023 | 17:44 Uhr
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Für was braucht es einen Think Tank Gastwelt, Herr Klinge?

Der Think Tank "Zukunft der Gastwelt" hat jüngst eine aufsehenerregende Studie des Fraunhofer Institutes zur "Gastwelt" vorgelegt und will die Branche verändern. Dehoga-Präsidiumsmitglied  Marco Nussbaum hält die Initiative für sinnlos und glaubt, dass sie die Branche eher schwäche. Im Interview mit Hotel vor9 hält Vorstand Marcel Klinge (Foto) dagegen.

Zukunft der Gastwelt Marcel Klinge Vorstand Foto Zukunft der Gastwelt

Marcel Klinge nimmt die Kritik von Marco Nussbaum gelassen hin und will weiterhin die Interessen der Branche zusammenführen

Marco Nussbaum aus dem Präsidium des Dehoga-Bundesverbandes hat Ihren Think Tank heftig kritisiert. Scheinbar sieht nicht jeder die Notwendigkeit für ein solches Konstrukt.

Ein bisschen Klappern gehört ja immer zum Geschäft, auch bei Marco Nussbaum. Am Ende geht es aber darum, dass wir uns bei strategischen Gastwelt-Anliegen wie der Mehrwertsteuerentfristung oder beim Thema Mitarbeiter besser abstimmen und koordiniert vorgehen. Wenn der Bundes-Dehoga hier eine besonders aktive Rolle einnehmen will, finde ich das sehr gut. Aber einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber der Politik angesichts eines Mitglieder-Organisationsgrades von nur noch unter 30 Prozent abzuleiten, finde ich nicht mehr zeitgemäß. Letztlich ist diese Frage auch irrelevant. Hauptsache, wir bewegen in Berlin künftig noch mehr für unsere über 240.000 Gastweltbetriebe.

Warum braucht es die vom Think Tank angestrebte Neudefinition der Gastwelt?

Im Deutschen Bundestag laufen die Themen Touristik, Hospitality, Gastronomie, Food & Beverage, Gemeinschaftsverpflegung sowie der ganze Außerhaus-Markt vor allem unter dem Sammelbegriff 'Tourismuswirtschaft'. Für viele Menschen bedeutet Tourismus aber vor allem zwei Mal im Jahr in Urlaub fahren. Reisen ist am Ende des Tages für die Politik leider 'verzichtbar'. Doch das, was die fast 250.000 Gastwelt-Unternehmen für unsere Gesellschaft leisten, ist überaus alltags- und sozialrelevant.

Obwohl mit Zahlen untermauert, sind die Erkenntnisse der Studie selten neu und oftmals auch eine Binsenweisheit. Dass die einzelnen Branchen voneinander abhängen und sich gegenseitig befruchten oder dass die Gastwelt anhand von Millionen Arbeitnehmern eine Schlüsselindustrie darstellt? Geschenkt. Aber was ist daran jetzt die bahnbrechende Erkenntnis?

Ich muss Ihnen hier entschieden widersprechen. Im politischen Berlin und den Medien sind diese Zusammenhänge im Detail überhaupt nicht bekannt. Unsere Fraunhofer-Studie ist die erste Untersuchung, die diese Zusammenhänge und den hohen Vernetzungsgrad systematisch erfasst und in ein schlüssiges Konzept gießt. 

Wie reagiert die Branche auf die Studie?

Durchweg positiv. Die Studie ist allein über unsere Webseite 874 Mal heruntergeladen worden. Unser Ziel ist es, mit ihr ein realistisches Bild der enormen Wirtschaftspower, ein neues Big Picture, zu zeichnen und stärker Gemeinsamkeiten zu betonen. Mit den neuen Zahlen und Fakten im Gepäck können wir auch viel selbstbewusster gegenüber Politik und Gesellschaft auftreten.

Wenn das Ziel der Denkfabrik ist, dass am Ende die Tourismus-, Hospitality- und Foodservice-Industrie künftig ihre Zukunft selbst gestalten, kann das doch völlig autark gar nicht funktionieren, weil die Politik den Rahmen steckt. Ist das nur ein hohles Versprechen?

So wie bisher sollten wir auf keinen Fall weitermachen: Zu viel Klein-Klein, zu viel Silodenken, zu wenig Vernetzung, Abstimmung und gemeinsames Handeln bei strategischen Anliegen. Aus meiner Zeit im Bundestag kann ich Ihnen sagen, dass wir – Stichworte 'Mindestlohn' oder 'Bio in Kantinen' – oftmals als Blockierer und Dauermotzer wahrgenommen werden. Das finde ich schade und es stimmt auch nicht. Wir sollten uns nicht nur auf die Politik verlassen. Ein Beispiel: In Berlin wird seit 2018 an einer nationalen Tourismusstrategie im Bundeswirtschaftsministerium gearbeitet – bis heute gibt es noch kein fertiges Papier. Warum schreiben wir nicht selbst eines?

Inwiefern kommt dann die Denkfabrik ins Spiel?

Die Politik ist für uns ein wichtiger Partner und wir sind im Bundestag mittlerweile exzellent vernetzt. Dabei kommunizieren wir auf der Höhe der Zeit. Als ich kürzlich im Sondernewsletter eines Verbandes am Ende las "Mit kämpferischen Grüßen", wurde mir ganz anders. Parlament und Regierung sind unsere Verbündeten, die wir begeistern und für uns gewinnen müssen. Sie sind nicht unsere Gegner. Wir wollen neue inhaltliche Impulse setzen und sehen uns als eine Art Dolmetscher zwischen der Politik und der Gastwelt, die jeweils sehr unterschiedliche Sprachen sprechen.

Sie schaffen damit einen weiteren Player, der um Einfluss kämpft. Wieso soll die Denkfabrik erfolgreicher als andere sein?

Als Denkfabrik kämpfen wir nicht um Einfluss, sondern sind der festen Überzeugung, dass wir mit unternehmerischem Know-how, innovativen Ideen und praxisnahen Konzepten mehr politisch erreichen können als mit den immer gleichen lahmen Argumenten oder einem ruppigen Umgangston.

Mit dem Dehoga und anderen Branchenverbänden gibt es bereits Lobbyisten, die für die Gastwelt sprechen. Braucht es einen weiteren Think Tank überhaupt?

Laut Lobbyregister des Deutschen Bundestags gibt es derzeit über 80 registrierte Gastwelt-Verbände, drei Denkfabriken sowie knapp 30 Unternehmen, die sich in Berlin politisch betätigen. Genau aus diesem Grund haben wir auch keinen neuen Verband, sondern den ersten Think Tank der Tourismus-, Hospitality- und Foodservice-Industrie in Deutschland gegründet.

Was machen Sie denn anders?

Wir gehen zwei Schritte weiter und haben immer das gesamte Ökosystem im Blick. Wir konzentrieren uns dabei auf vier bis fünf strategische Top-Themen, die für alle Akteure gleichermaßen wichtig sind: Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Krisen, Resilienz und natürlich die Mitarbeiter-Gewinnung. Letzteres ist für mich das Thema des Jahrzehnts. Wir stellen Politik, Medien und Gesellschaft wichtige Grundlageninformationen zur Verfügung und bei allem, was wir inhaltlich machen, denken wir zwei bis drei Jahre in die Zukunft. All das unterscheidet uns doch erkennbar von Verbänden, die ja vor allem im Tagesgeschäfts aktiv sind.

Haben Sie sich eine Deadline gesetzt, bis wann der Think Tank etwas bewirken soll?

Wir denken in Legislaturperioden, also zunächst bis 2025. Wenn wir es bis dahin geschafft haben, dass sich die Beteiligten an einen Tisch setzen, die Sache in den Mittelpunkt stellen und gemeinsam Strategien entwickeln und sich nicht aneinander abarbeiten, haben wir schon viel erreicht.

Das Interview führte Sven Schneider.

Dr. Marcel Klinge (42) war von 2017 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages und tourismuspolitischer Sprecher der FDP. Der Politikexperte leitet seit Ende 2021 die Berliner Hospitality-Denkfabrik Zukunft der Gastwelt (DZG).

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